Sonntag, 10. Juni 2012

Tagebucheintrag der Christiane F. vor ihrem Selbstmordversuch


Liebes Tagebuch,

ich spüre, dass mein Leben nur noch an einem seidenen Faden hängt. All die schönen Träume und Spinnereien sind wie schillernde Seifenblasen zerplatzt. Illusion, nichts als Illusion- diese Erkenntnis macht mich fertig, zieht mich immer weiter nach unten. Wann reißt er, der Faden? Wie konnten wir nur so blöd sein uns einzureden, dass wir je wieder von dieser Scheißdroge wegkommen? Damit haben wir doch nur unser Gewissen beruhigt und uns selber die Erlaubnis für den nächsten Schuss gegeben. "Nur noch diesen Druck, ein einziges Mal noch" Dieser elende Satz, der unaufhörlich in meinem Körper hämmert, bis ich schließlich nachgebe. Wie viele Entzüge sind so gescheitert! Wieder keine Hoffnung mehr! Heroin- die letzten zwei Jahre habe ich nur für diesen Stoff gelebt. Er hat alles in den Schatten gestellt, was mir jemals etwas bedeutet hat: meine Familie, die Schule und die Liebe zu Detlef. Ja, ich habe gerade einen lichten Moment. Ich scheue mich nicht mehr, der Wahrheit ins Gesicht zu blicken. Ich weiß genau, dass ich nur noch zwei Möglichkeiten habe und dass ich mich jetzt entscheiden muss, wie immer getrieben vom H. Wenn ich von dieser Droge nicht loskomme werde ich vielleicht noch zwei Jahre zu leben haben. Zwei schreckliche Jahre. Zwei Jahre, in denen ich zwischen dem Beton der Hochhäuser dahinvegetiere, in stinkenden Toiletten mir ein bisschen Glück unter die Haut spritze und mich dafür ekelhaften Freiern hingeben muss. Zwei Jahre, in denen das Heroin meinen Überlebenswillen und jegliche Freude unter sich begraben wird. Aber ist das nicht schon geschehen? Für wen lohnt es sich zu leben? Detlef? Nein, er steckt zu tief in der Scheiße drin, genau wie ich. Alles sinnlos. Natürlich kann ich wieder auf Entzug gehen, doch mit welcher Chance? Ich kenne mich, ich bin nicht stark genug, ich werde es nie schaffen. Selbst wenn das Wunder geschehen würde, so würde mich meine schreckliche Vergangenheit doch immer wieder einholen. Sie klebt an mir fest, ist nicht wegzukriegen. Mein ganzes Leben lang wäre ich als schmutzige Fixerin abgestempelt, eine verachtete, wertlose Person, von der Gesellschaft ausgeschlossen. Das kann und will ich mir nicht antun. Ich könnte die Schuld für diese ganze Scheiße auf meine Mutter schieben, die nie Zeit für mich hatte, auf meinen Vater, der mir durch seine Aggressionen meine glückliche Kindheit nahm oder auf diese verdammte Umgebung, in der man so leicht abrutscht. Klar, das hat mir schwer zugesetzt, aber das größte Problem, das bin ich selbst. Ich verachte und hasse mich für das, was ich gemacht habe, ich ekel mich vor mir selbst. Ich bin nur  noch der klägliche Überrest, ein Schatten der früheren Christiane, vollgepumpt mit Heroin, abhängig, ohne Kraft zum Widerstand. Langsam und elend verrecken, nein, so nicht. Ich werde mir lieber den Goldenen Schuss setzten. Hier. Jetzt. Ich verspüre keine Angst, der Tod kann nicht schlimmer sein als dieses menschenunwürdige Leben. Jetzt bin ich total ruhig. Ich denke nicht an meine Familie, nicht an schöne Tage meiner Kindheit, nicht an Detlef. Meine Gedanke kreisen um Heroin, Heroin, Heroin... . Es wird nicht wehtun, es wird genauso sein wie immer, genauso vertraut, nur, dass dieser Schuss mein letzter sein wird.

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